Montag, 16. April 2007

Aus gegebenem Anlass - Offtopic

Aufgrund unserer politischen Vergangenheit erreichen uns Anrufe und Mails zur Oettinger-Filbinger-Frage. Etwas missgestimmt bezeichneten wir den Medienhype als das, was er ist: ein Zirkus mit wenig Erkenntnisgewinn. Gut fanden wir die Aussage des Grünen-Fraktionsführers im baden-württembergischen Landtags, Kretschmann: "Das müssen Historiker klären." Da auch Kretschmann inzwischen eifrig brüllt, wollen wir seiner Forderung im Stillen nachgehen und einen renommierten, von uns sehr geschätzten Historiker zu Wort kommen lassen:

Als im Sommer 1978 die Hetze gegen Hans Filbinger losging, wußte ich nicht viel von ihm: nur, daß er in Baden-Württemberg ein erfolgreicher, allgemein beliebter Regierungschef war, welcher der Union in Stuttgart zum erstenmal eine absolute Mehrheit im Landtag verschafft hatte. Seine Vergangenheit war mir unbekannt. So, in einem Interview, sprach ich über seinen "Fall" etwas kümmerlich: er habe damals als Marine-Richter gehandelt "unter einem Druck und in einer Gefühlslage, welche die, die damals noch gar nicht geboren waren, sich schwer vorstellen können. Filbinger hatte in den folgenden Jahrzehnten Gelegenheit gehabt, sich zu entwickeln, freiere Horizonte in sich aufzunehmen und so, glaube ich, dem Land zu nützen. Er hat der Demokratie Gutes getan." Dergleichen genügt mir heute keineswegs. Zum Beispiel brauchte Filbinger keine "freieren Horizonte" in sich aufzunehmen, denn er war niemals ein Anhänger Adolf Hitlers gewesen. Als Jura Student hatte er in Freiburg dem Kreis der Professoren Böhm und Eukken angehört, Anhängern eines freiheitlichen Rechtsstaates und freien Marktes, was den Machthabern wohlbekannt war; sie bewegten sich auf einer gefährlichen Grenze.

Ferner - gehörte er dem katholischen Bund "Neudeutschland" an, der ebenfalls als "politisch unzuverlässig" galt. Um freie Luft zu atmen, reiste er im Herbst 1938 mit den erlaubten zehn Reichsmark in der Tasche nach Paris und fand dort tatsächlich Arbeit, neben der er auch noch Rechtsstudien betreiben konnte; erst das offenbare Herannahen des Krieges trieb ihn nach Deutschland zurück, nun Doktor beider Rechte; er wünschte das Schicksal, das zum Beispiel ich in französischen Internierungslagern erfuhr, nicht zu teilen, ein sehr begreiflicher Entschluß. Im Jahre 40 zur Marine eingezogen, nach drei Jahren Dienst Unteroffizier, meldete er sich für die U-Boot-Waffe.

Aber man entgeht seinem Schicksal nicht. Als Jurist wurde er für die Marine-Justiz gebraucht und in Norwegen eingesetzt, wie sehr er sich auch dagegen wehrte. In seinem Amt, einmal des Richters, einmal des Anklägers, verhielt er sich so human, wie er irgend durfte. Einigen, ohne sein Zutun, zum Tode Verurteilten, gelang es ihm, mit unendlicher Mühe, das Leben zu retten; dem katholischen Marine-Pfärrer Möbius, dem bayerischen Oberleutnant Forstmeier und anderen mehr diese Seiten sind besonders fesselnd und angenehm zu lesen. Im Fall des verurteilten Matrosen Groger, einem vierzehnmal vorbestraften Deserteur, war die Rettung von vornherein unmöglich: seine Verurteilung in einem ersten Prozeß, zu acht Jahren Gefängnis, wurde von dem Chef der Flotte im Norden kassiert. Die Todesstrafe, so sah es der Verteidiger, stand fest, ehe Filbinger überhaupt in Erscheinung trat; dieser, so berichtete eben der Verteidiger später, spielte während des Prozesses nur noch die Rolle eines Statisten, weswegen er, der Verteidiger, ihn denn auch völlig vergessen hatte.

Es war aber eben dieser Fall, den Rolf Hochhuth 33 Jahre später aufgriff. Warum? Auf diese Frage antwortete ich in jenem Interview: "Das weiß ich nicht. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob Herr Hochhuth auf eigene Faust gehandelt hat, ob er die Liste deutscher Politiker durchging, biographische Fakten studierte und sich dann für die Akten eines Marinerichters entschloß - oder, ob er Winke von anderswoher erhalten hat."

Diese Frage stellte ich auch Herrn Hochhuth im Gespräch, mit dem ich so und auch anders stehe. Auch habe ich ihn gefragt, warum er denn in seinen Dramen, der ja der Schiller seiner Zeit sein wollte, immer nur die Mißstände im Westen geißelte, sich aber einen so großartigen zeitgeschichtlichen Gegenstand wie den Aufstand der Ungarn, das Schicksal Imre Nagys oder wie den "Prager Frühling" und dessen tragisches Ende entgehen ließ? Er verstand, was ich meinte und antwortete tief gekränkt: In der Sowjetunion seien seine Werke verboten. Mag sein, mag sein ... Im Gegensatz zu Dr. Filbinger halte ich den "Stellvertreter" nach wie vor für ein sehr starkes, dramatisches Werk. Danach kamen schwächere und immer schwächere Wiederholungen, zuletzt zu dramatisiertem Journalismus herabsinkend. Hochhuths Prosa ist entschieden besser; da findet dieser Autor immer wieder Trauriges zu erzählen und tut es eindrucksvoll.

Die eindrucksvollsten, geradezu qualvoll zu lesenden Seiten des Buches sind jene, die von der meisterhaft konzentrierten Hetze gegen Filbinger handeln: vorn Fernsehen, zumal von "Panorama", von der "Zeit", vom "Spiegel", obgleich der Bruder Rudolf Augsteins, der bekannte Anwalt, ritterlich für den Verfolgten Partei nahm. Da wurden nun zum Beispiel zwei weitere Todesurteile ausgegraben, an denen Filbinger beteiligt war. Er hatte sie vergessen, was mir damals schwerfiel, ihm zu glauben. Heute glaube ich es ihm aufs Wort. Warum? Weil es sich um Urteile handelt, die gar nicht vollstreckt werden konnten, zumal die verurteilten Deserteure - einer von ihnen war obendrein ein Mörder - sich im sicheren Schweden aufhielten, welcher Staat in den letzten Kriegsmonaten sie gewiß nicht ausliefern würde. Also eine bare, hastig erledigte Formalität ohne Konsequenzen. Was Filbinger überzeugend ausführt: welche rettende Aufgabe die deutsche Kriegsmarine gerade während der letzten Monate des Krieges zu vollbringen hatte:. Millionen von Deutschen aus dem Osten, wo ihr Schicksal allemal ein arges gewesen wäre, über die Ostsee nach dem Westen zu bringen. Dafür tat Disziplin not bis zuletzt; wer sich ihr entzog, war nicht nur schuldig im Sinne des Kriegsrechts, welches auf allen Seiten galt, immer gegolten hat, also mit "Nazismus" gar nichts zu tun hatte; er wurde auch zum Verräter an seinen Mitbürgern.

Was das Kriegsrecht betrifft, auch der General Eisenhower "dieser große und gute Chef" nennt ihn Charles de Gaulle hat das Todesurteil an einem Fahnenflüchtling bestätigt. Seine erbittertsten Feinde haben das später dem Präsidenten Eisenhower nicht zum. Vorwurf gemacht. In Washington war dergleichen unvorstellbar. Warum wurde es Wirklichkeit in Stuttgart? Der Krieg, ist der Krieg- und hat dieselben uralten Grundgesetze allenthalben; darum ist es besser, man fängt ihn gleich gar nicht an.


Prof. Golo Mann in "Welt am Sonntag", 26.7.1987

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